Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung vom 12.05.2010
…. Und was ist Kirche? Kirche ist das, was es ohne sie nicht gäbe. Es gäbe keine Räume der großen Stille, der Meditation, des Innehaltens. Es gäbe keinen Raum, in dem Wörter wie Barmherzigkeit, Seligkeit, Nächstenliebe und Gnade ihren Platz haben, es gäbe keinen Raum, in dem noch von Cherubim und Serafim die Rede ist. Die Poesie der Psalmen hätte keine Heimat mehr. Es gäbe keinen Raum, in dem eine Verbindung da ist zu uralten Texten und Liedern – zu Liedern, die die Menschen schon vor Jahrhunderten gesungen, und zu Gebeten, die die Gläubigen schon vor Jahrtausenden gebetet haben. So aber ist Kirche ein Ort, der Zeit und Ewigkeit verbindet.
Es ist gut, dass es einen Ort gibt, an dem gesagt wird, wer gestorben ist aus der Gemeinde, und wie alt er war; es ist gut, das zu hören, auch wenn man den Verstorbenen nicht gekannt hat. Es ist gut, dass es einen Ort gibt, an dem das Kreuz sein Zuhause hat. Ja, das Kreuz ist missbraucht worden als Drohzeichen, als Mord- und Eroberungsinstrument. Trotz alledem: Es ist das gute Zeichen des Christentums. Ein Gott, der gelitten hat, der umgebracht wurde, der also weiß, was Leiden ist, bei dem ist das Leid der Menschen aufgehoben. Ohne Kirche gäbe es keinen öffentlichen Raum, in dem ein Mensch weinen kann, bei irgendeinem Lied, bei einer Fürbitte, die ihn anrührt. Kirche ist das, was es ohne sie nicht gäbe. Es gäbe keine Kirchenglocken, keine Christmette, es gäbe keine Kirchenchöre, in denen der Handwerksmeister, die Lehrerin, der Versicherungsmakler und die Krankengymnastin nebeneinander stehen und Bachchoräle singen. Es gäbe den Blick nicht über die Dörfer mit den Kirchturmspitzen, es gäbe nicht die heiligen Haltestellen in den Großstädten der Alten und der Neuen Welt, die Kathedralen und Dome, die mehr sind als ein Erbe.
…. Jedenfalls können die Privilegien, die das Staatskirchenrecht den Kirchen verleiht, nicht die schwindende Lebenskraft und das schwindende Leben der Kirchen ersetzen. Aber: Dieses Leben ist natürlich nicht verschwunden, selbst im geschwundenen Zustand ist dieses Leben noch größer, vielfältiger und umfassender als in jedem anderen Verband. Sicherlich kann man Gemeinschaft auch anderswo erfahren, sicherlich gibt es Nächstenliebe auch in der Amnesty Gruppe und im Hospizkreis; und Spiritualität kann einer auch in einer japanischen Tee Zeremonie erleben. Aber dort fehlt das alles durchdringende Prinzip, das die Kirchen das Göttliche nennen.
Kirchen sind Räume; Kirchen sind Organisationen und Institutionen. Dort ist immer noch viel Leben, auch Leben in Gemeinschaft, religiöses und soziales Leben. Dort wird geholfen, geheilt, zugehört, dort wird gefeiert- dort wird auch intrigiert, übertrumpft, dort werden andere an die Wand gespielt, dort werden auch unheilige Interessen vertreten, dort wird Vertrauen missbraucht und verraten, dort wird gelogen, dort wird sexuelle Gewalt ausgeübt.
Kirche ist fürwahr nicht der Himmel und die wenigsten ihrer Funktionäre sind Heilige. Sie kann aber, wenn es gut geht, ein Ort sein, an dem der Himmel offen gehalten wird….